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AutorenbildMeine Klasse

Gefühlte Bewegung

Ich habe heute in der letzten Schulstunde 45 Minuten stinknormalen Unterricht gemacht. Ich habe mich umgedreht, etwas an die Tafel geschrieben. Ich habe normal geatmet. Ich habe Fragen gestellt, Antworten bekommen. Das alles in Zimmerlautstärke. Ich habe einmal kurz gelacht und in ein freundlich lächelndes Schülergesicht geguckt. Ich habe Blätter ausgeteilt und sie ausgefüllt wieder eingesammelt, ohne einen einzigen Papierflieger darunter zu finden, ohne Zeichnungen von Geschlechtsteilen. Ich habe Stühle hochstellen und Fenster schließen lassen. Einen schönen Tag gewünscht und „Tschüß“ gehört.

Danach bin ich zu meinem Kollegen gegangen, und habe mich dafür bedankt, dass er das ermöglicht hat. Denn eigentlich läuft die letzte Stunde an diesem Wochentag nie gut für mich, nie gut für die Schüler:innen. Es ist eine Klasse, mit der ich einfach nicht weiterkomme. Gründe dafür gibt es viele. Z.B. die kurze Zeit, die wir uns kennen und die nicht länger werden konnte, weil immer wieder ein Lockdown kam und jetzt schon das Ende in Sicht ist und somit „alles egal“. Ich bin mal laut und mal leise gewesen, mal nett und mal grantig, mal motiviert und mal resigniert. Ich wurde ab und an angebrüllt und habe schon mal zurückgebrüllt. Nichts davon hat irgendwas gebracht. Nie habe ich in dieser Klasse länger als zehn Minuten sowas wie Unterricht gemacht. Stattdessen flogen neben Papierfliegern Stühle um, Kinder rannten herum, ich tänzelte durch die Reihe mit rudernden Armen, um sie einzufangen.

Aber heute saß in der letzten Schulstunde eine ganz andere Klasse vor mir. Niemand war wütend, keiner brüllte oder beleidigte. Keiner sprang auf, um sich dann direkt wieder hinzusetzen, um dann wieder brüllend aufzuspringen. Alle saßen da, mit roten Backen und zufriedenen Gesichtern und machten einfach mit. Ich war erst etwas verunsichert und fragte, was passiert sei. Und tatsächlich: Etwas war anders als sonst gewesen: Die Kids erzählten mir, dass sie gerade vom Schulhof kamen, denn sie hatten vorher eine Vertretungsstunde gehabt. Der Lehrer war mit ihnen und einem Fußball auf den Schulhof gegangen. Vorurteile und Bedenken hat er offensichtlich im Klassenzimmer gelassen. Er hat den Ball hochgeworfen und das Spiel angepfiffen. Und die Klasse hat sich in Bewegung gesetzt. Und 45 Minuten später hat er abgepfiffen und die Schüler:innen sind verschwitzt und durstig zurückgegangen. Und das wars.

Und ich kann seit dem nicht anders, als mich zu fragen, wieso wir eigentlich Kinder, nicht älter als 12 oder 13, in Klassenräume verdammen, manchmal stundenlang ohne die Chance auf Bewegung. Warum das überhaupt irgendwann mal als erstrebenswert oder machbar angesehen wurde. Das Argument, es gäbe eine Pause, ist lächerlich, denn die ist kurz und es gibt manchmal Dinge zu tun, wie Toilettengänge, mit Freunden reden oder heimlich verbotene Dinge tun. Dafür sind die Pausen halt da.

Ein Argument könnte der ausfallende Unterricht sein und die dadurch entstehenden Wissenslücken. Das passende Gegenargument kann man oben im Text nachlesen.

Es ist Zeit, dass sich etwas in Bewegung setzt. Im Klassenzimmer, im Lehrplan, im Denken. Bis dahin hoffe ich auf viele Vertretungsstunden bei meinem Kollegen.


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1 Comment


hansmaulwurf1
Mar 30, 2022

Schöne Beobachtung, die hoffentlich die Runde macht und Einzug in viele Köpfe findet. Gerade in Zeiten mit Maske ist einigen Kindern in der letzten Stunde der innere Kampf um die geforderte Aufmerksamkeit anzusehen, den sie mitunter wirklich gewinnen wollen aber nicht mehr können.

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