Bettina Stark-Watzinger spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt: „Nicht die Länge der Bücherregale zu Hause darf über den Bildungserfolg entscheiden.“
Was aber in ihrer Rede als nächstes folgt, ist das große Missverständnis, dem die Bildungspolitik, aber auch die Gesellschaft, immer wieder aufsitzen:
Die Annahme, Talent und Leistung müssten die Grundlage eines potenziellen Aufstiegs sein.
Frau Stark-Watzinger erwähnt meinen Text in einer Rede im Bundestag vom 19.01.20123 im Kontext Bildungsgerechtigkeit und zieht trotzdem den falschen Schluss aus meiner Erzählung. Denn wenn wir schon über mein 15-jähriges Ich sprechen, dann müssen wir auch der Tatsache ins Auge sehen, dass ich in diesem Alter weder ein besonderes Talent noch eine besondere Leistungsbereitschaft vorzuweisen hatte. Wie auch? Ich habe alle Energie in den Versuch gesteckt, mein Leben nicht auseinander fallen zu lassen in dieser Zeit.
Unter diesen Umständen verkümmern Talente. Auch an Leistung ist bei den meisten Kids, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, nicht zu denken. Was sich stattdessen entwickelt bei diesen Kindern: die Überzeugung, am Rand zu stehen, allein zu sein, es nicht hinzubekommen. Wut, Frust, Aggression.
Leistung und Talent dürfen nicht die Grundlage für eine erfüllte Bildungsbiografie sein. Stattdessen: Bedingungslose Wertschätzung und Unterstützung für alle Kinder. ALLE. KINDER.
P.S.: Übrigens gibt es einen kleinen Fehler im Datum der Rede - 19.01.20123 sollte wohl 19.01.2023 sein. 😉
Vielen Dank, Lisa Graf, für das augenöffnende und inspirierende Buch und auch für die sehr angebrachte Kritik am Kommentar der Bildungsministerin zu Talent und Leistung. Es sehen immer noch zu wenige Leute, dass in fast allen Kindern (und Erwachsene) Talente stecken, die nur nie auf fruchtbaren Boden stoßen. Und dass auch fast alle Kinder und Erwachsene eine potentiell hohe Leistungsbereitschaft haben - wenn sie nur das nötige Selbstvertrauen, Hoffnung und Motivation haben würden. All das den Kindern zu vermitteln ist wahrscheinlich das Wichtigste, was Schulen leisten können - und gleichzeitig die größte Herausforderung.
Wirklich gleiche Bildungschancen für alle wird es wohl nie geben. Aber es wäre toll, wenn es über alle Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame Initiative für faire Bildungschancen für…