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Hier und Woanders

Als ich ins Klassenzimmer komme, merke ich gleich, dass etwas nicht stimmt. Denn Merima steht nicht wie sonst am Fenster und schickt liebe Grüße in Form von gebrüllten Beleidigungen zu ihren Freundinnen im Block gegenüber. Sie sitzt weinend auf ihrem Platz und lässt sich von ihrer Sitznachbarin den Rücken streicheln. Ich gehe auf sie zu, um sie zu fragen, was passiert ist, da springt sie auf und schreit Adnan an: „Junge, wie kannst du sowas sagen, was machst du? Nicht mal Niko sagt das, und der ist Alman!“


Adnan guckt sie nicht an und murmelt irgendwas von „war Spaß“ und Niko lacht ihn aus „Hörst du, nicht mal ICH sag so eine Scheiße, ich bin nämlich ein Ehren-Alman!“


Merima weint nicht einfach so. Wer ihr dumm kommt, der kriegt mindestens verbal aufs Maul. Aber das, was Adnan zu ihr gesagt hat, das hat sie an einem wunden Punkt getroffen. Er hat sie verraten. Er hat sie unter der Gürtellinie beleidigt. Komisch nur, dass Merima hier einen Unterschied macht: Wäre Niko es gewesen, der sie auf diese Art beleidigt hätte, wäre es offensichtlich viel weniger schlimm. Denn Niko ist „Alman“ und in Merimas Augen muss man seine Beleidigungen deswegen nicht so ernst nehmen. Er kann dumme Witze machen, krasse Sprüche drücken und unter der Gürtellinie beleidigen, ohne dass sich Merima komplett abgewertet fühlt. Adnan hingegen hat die Macht, Merima mit einem dummen Spruch zunichte zu machen. Als würden seine Worte im Moment des Aussprechens unmittelbar wahr.


Ich beobachte Situationen und Wortgefechte wie diese häufiger an meiner Schule und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Einerseits bin ich irgendwie beeindruckt von der Fähigkeit der SchülerInnen, in ihrem Alltag so stark zu differenzieren. Die Kids leben zu Hause und in der Schule teilweise in völlig unterschiedlichen Welten. In beiden gelten andere, unausgesprochene Regeln. Dinge, die in der einen Welt normal sind, erscheinen in der anderen völlig unangemessen. Alle, aber vor allem die Mädels, stehen jeden Tag aufs Neue vor der Herausforderung, diese Realitäten in Einklang zu bringen. Dass sie das schaffen, sorgt dafür, dass viele Situationen nicht hochkochen, sondern einfach so angenommen werden. Es ist also egal, wie Niko Merima sieht. Denn er gehört nur zur Vormittagswelt. Nichts von dem, was er sagt, bleibt. Adnan aber kennt die Regeln. Seine Worte haben Bestand. Auch nach der Schule.


So praktisch und bewundernswert diese Anpassungsfähigkeit auch ist, so hinderlich ist sie, wenn es um echtes Verständnis füreinander geht. Denn Typen wie Niko können sich zwar häufig mehr erlauben, sie werden gleichzeitig aber auch in die Ecke der Clowns gestellt. Bei ihnen ist einfach alles egal. Das führt wiederum dazu, dass sie teilweise erst recht Sprüche drücken und beleidigen.

Die anderen Typen machen die Regeln für die Mädels. Und diese Regeln stammen aus der Welt, die eben mit der Lebensrealität der SchülerInnen häufig gar nicht mehr viel zu tun hat. Und so bleiben alle gefangen in ihren auferlegten Rollen.

Das erzeugt Distanz. Das trennt die Klasse. Die Missverständnisse übereinander werden noch weiter eingebrannt, jede/r erfüllt seine Klischees.


Und alles, was ich jetzt tun kann, ist meinem Klischee zu entsprechen: Ich stelle Fragen und bekomme keine Antworten.

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