In Klasse und Kampf schreibt Arno Frank in seinem Text Bremsklotz:
„In ein Leben im toten Winkel der Gesellschaft kann man leicht hineinwachsen und dort eine unbehelligte Kindheit verbringen.“
Ich bin auf diesem Zitat total hängen geblieben. Nicht nur, weil es so Arno-Frank-typisch gut geschrieben ist. Ich habe mir vor allem die Frage gestellt, wer in Bezug auf den „toten Winkel“ eigentlich weniger sieht. Die, die immerzu sicher in der Spur fahrend im Geschäftig-Sein-Modus keine Zeit für einen Schulterblick haben?
Oder die, die im toten Winkel irgendwie mithängen, nicht überholen können und ständig Gefahr laufen, abgehängt zu werden? Was sehen sie eigentlich, in ihrer Unsichtbarkeit?
Wissen sie, wo die Reise hingeht? Und wenn nicht, haben sie die Möglichkeit, Anspruch auf eine Wegbeschreibung zu erheben? Gibt es ein Stoppschild? Die Möglichkeit, Möglichkeiten zu ergreifen?
Jetzt wagen immer mehr Menschen auf der linken Spur den Blick über die Schulter und stellen fest: Es fehlt den anderen an Sichtbarkeit. Die logische Mission: Raus aus dem toten Winkel, rein ins Spotlight.
Erstmal gut, denke ich und mache mit.
Aber immer häufiger beschleicht mich das Gefühl, als würden wir Menschen ins Licht rücken wollen, um endlich mal richtig rumschrauben zu können. Um sie vermeintlich fit zu machen. Wir versuchen ihre Sprache zu verändern, sie für unsere Salons fähig zu machen.
Wie sichtbar dürfen meine Schüler:innen sein, wenn wir ins Theater gehen? Wenn wir im Museum sind? Wenn sie ans Gymnasium wechseln?
Geht es uns wirklich um den Aufbruch der Umgebung? Darum, lange Festgehaltenes endlich loszulassen und neu zu denken? Das sollte unsere Aufgabe sein, wenn wir Sichtbarkeit wollen. Aber ist es nicht vielmehr die Fähigkeit zur Tarnung, die wir denen abverlangen, die sich ins Theater, ins Museum, ans Gymnasium begeben?
Sichtbarkeit sollte nicht nur die Offenlegung des toten Winkels betreffen. Es muss vor allem bedeuten, eigene, elitäre Denkmuster aufzudecken, anzunehmen und im besten Fall zu überwinden.
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