Esma ist aufgeregt. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche. Ihre Fingernägel klackern auf dem Display.
„Alter ich hass‘ das Geräusch, das ist so ekelhaft!“ sagt Baran. „Halt deine Fresse, ich muss was gucken!“ sagt sie, ohne den Kopf zu heben.
„Packst du bitte dein Handy in die Tasche, geht’s noch?“ sage ich und verpacke es als Frage.
Esma blickt auf und schaut mich an. Sie verdreht die Augen. Sie packt ihr Handy nicht weg.
„Ich muss nur kurz was gucken, wegen den Fächern, die man da wählen kann.“ sagt sie, ihr Kopf fällt wieder Richtung Handy.
„Die ist schlau, die will Abi machen.“
„Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet!“ sage ich, und weiß genau wovon sie spricht.
Getting there.
Ich gehe auf Esma zu, und sehe ihr Handy nicht, weil ihre Haare darüber hängen. „Was machst du denn?“ frage ich neugierig, ich kenne Esma ja so nicht. So unkooperativ. So unruhig. Esma schaut hoch, ihr Handy lichtet sich. Drei große Buchstaben auf einer schlecht konzipierten Homepage: Ein Schullogo. Ich wittere eine Chance für uns alle.
Esma ist mittlerweile (fünf Minuten nach dem Klingeln) sehr genervt und sehr frustriert. Sie wirkt gereizt. „Oh Mann, ich muss echt nur kurz was gucken, weil die gesagt haben, dass man da Französisch machen muss oder so.“ Ich fucke sie jetzt schon ab. Ihre unsicheren Augen fucken mich auch ab, weil ich sie kenne. Ich habe schon unzählige Male in den Spiegeln irgendwelcher Unitoiletten in diese Augen geguckt und tief durchgeatmet.
„Die macht einen auf Recherche.“ Baran wieder.
„Halt doch einfach mal dein dummes Maul, man. Wie behindert bist du eigentlich?“ Jetzt ist sie sauer.
Ich wedle mit den Händen, gehe rückwärts und rufe schnell „okay, Leute, also wir können gerne über das Thema sprechen, aber sicher nicht so.“
So bedeutet in dem Fall, dass sich mindestens drei Jungen und ein Mädchen gleichzeitig beleidigen und eine fünfte Person mir zu erklären versucht, worum es eigentlich geht und ich laut schlichtend versuche, das Gespräch zu strukturieren und die Beleidigungen zu stoppen. Ich weiß, worum es geht, aber gucke doch nochmal schnell ins Klassenbuch, um Zeit zu schinden und ja, da steht es eingetragen in der vorangegangenen Stunde: Tag der Oberstufe.
Das meint eine Schulstunde (ein Tag wäre schön) geballte Information über eine Welt, die vielleicht mal ihre werden könnte und ist wirklich mehr „Tag der Oberstufe“ als „Tag der SchülerInnen, die vielleicht mal in die Oberstufe wollen.“ Das merke ich daran, dass sehr viele - eigentlich alle – Fragen nicht gestellt wurden. Ich will Esma fragen, wieso sie keine Fragen gestellt hat, aber ich kenne die Antwort, weil ich selbst unzählige Fragen nicht gestellt habe.
Esma sagte mal in irgendeinem Zusammenhang über sich selbst, sie würde Azzlack-Deutsch sprechen. Ich wusste was sie meinte, ich habe selbst Azzlack-Deutsch gesprochen, dabei bin ich nicht mal ein Azzlack, aber ich habe sie trotzdem total lehrerinnenmäßig mit demonstrativem Schulterzucken gefragt:
„Was bedeutet denn Azzlack-Deutsch?“
„Kanacken-Deutsch. Asozial halt, wie so Kanacken!“, hatte sie geantwortet und gelacht. Ich habe auch gelacht und dann einen Monolog darüber gehalten, welchen Einfluss ihre Sprache hat und vor allem die Sprache über sie selbst. Wie Sprache sie selbst und die Meinung der anderen über sie formt. Wie Sprache sie abgrenzt und ausgrenzt und einschränkt. Bla bla bla.
Unweigerlich stelle ich mir Esma vor, in einer Reihe sitzend mit Hannah und Clara und dieses Bild schmerzt mich, weil ich weiß, dass sie trotzdem nicht dazugehören wird. Und sie weiß es auch.
Ich fasle noch irgendwas, um mich ein bisschen einzugrooven und denke relativ hektisch darüber nach, wie ich Esma und den anderen all das deutlich machen kann, die ganze Realität, ohne sie zu entmutigen, aber vor allem (!) ohne mich zu outen, das muss hier jetzt echt nicht sein, dass ich -
- „Wollten Sie schon immer Lehrerin werden?“ -
Okay, das geht in meine Richtung und damit in die falsche. Ich laber irgendwas. Baran ruft: „Braucht man für Lehrer Abi?“, ich nicke und hole Luft. „Waren Sie auf einem Gymnasium?“
Ich will schreien „Ohaaaa, chillt mal!“, aber sammle mich. Vielleicht werde ich rot, aber das hätte mir sicher jemand gesagt. „Man muss nicht von vornherein wissen, was man will“. Ich versuche es.
„Klar war die aufm Gymnasium, die ist doch eigentlich Gymnasiallehrerin!“
„Das hat damit doch gar nichts zu tun, und wenn du auf der Behindertenschule bist, wirst du Behindertenlehrer oder was?“
whatever.
Ich stehe an einem seltsamen Punkt. Die Augen im Spiegel des Uniklos sind sicher schwer zu ertragen, aber kann ich noch in den Spiegel gucken, wenn ich nicht den Mut habe, hier jetzt echt mal ne Ehrenfrau zu sein, meine Scham endlich abzulegen und Esma und Co. zu erzählen:
Nein, ich wollte keine Lehrerin werden, weil man "Lehrer" bei der Berufsberatung beim Arbeitsamt gar nicht ankreuzen konnte. Sondern „Arzthelferin“ oder „Altenpflegerin“ oder „Einzelhandelskauffrau“.
Nein, ich war nicht auf einem Gymnasium, sondern habe mich auf dem zweiten Bildungsweg zum Abitur entschieden, weil ich keine Ausbildung bekommen habe,
weil ich keine Bewerbung schreiben konnte,
weil ich keinen Plan hatte
wie sowas geht.
Und kein‘ Bock. Auf irgendwas.
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