Neulich ging ich aus einer Stunde raus, wie im Happy End eines schlechten Films.
Ich war berührt, überwältigt, hoffnungsvoll.
Es ist die sechste Stunde in einer Hauptschulklasse 9.
Keine dieser Katastrophenstunden, in denen zur Begrüßung ein Stuhl an mir vorbei fliegt. Alles läuft echt entspannt.
Zeynep meldet sich: „Frau G, sorry, aber es ist so assi langweilig!“
Zeynep langweilt sich oft. In der Regel schminkt sie sich dann oder geht aufs Klo. Dass sie sich mit diesem Problem so direkt an mich wendet, ist noch nie vorgekommen.
„Okay, Zeynep. Was langweilt dich denn so? Das Thema? Oder was genau?“, frage ich sie.
„Alles! Das ist so, keine Ahnung, Sie labern einfach was und keiner hört zu, aber alle machen einen auf.“
„Ja und, aber Hauptsache keiner macht Scheiße!“, wirft Mohamed ein. Ich stimme ihm innerlich zu.
„Wie würde es dir denn gefallen, Zeynep?“, frage ich.
„Ich weiß nicht, Sie sind doch die Lehrerin!“, sie lehnt sich mit verschränkten Armen zurück.
„Du kannst gerne übernehmen!“, typischer LehrerInnenspruch, ich strecke ihr demonstrativ die Kreide entgegen.
„Wallah, ich kann das!“ Zeynep steht ruckartig auf und nimmt mir die Kreide aus der Hand.
Die Klasse bricht in Gelächter aus. Ich setze mich auf Zeyneps Stuhl und nicke ihr zu. „Dann mal los.“
„Okay, Mohamed halt's Maul!“, schreit sie. Mohamed ist sofort ruhig, nachdem er noch „Chill dein Leben!“ zurückgerufen hat.
Zeynep zupft ihren Pullover zurecht und sagt in glasklarem Superdeutsch:
„Oh, Entschuldigung, so sprechen wir hier natürlich nicht, nicht wahr?!“
„Isso, Frau G. redet auch kein Azzlackdeutsch, also mach mal wie richtige Lehrerin jetzt!“
Zeynep schaut auf das Arbeitsblatt, das wir vorher bearbeitet haben. Sie schreibt die erste Frage an die Tafel.
„Wer möchte?“
„Ja bitte, du!“
Sie spitzt ihren Mund und nickt wie eine alte Dame, während sie die Augen zusammenkneift.
„Ja, ganz richtig, gut gemacht, sehr schön.“
Sie schreibt die Antwort an die Tafel.
„Na gut, weiter geht’s. Wer kann mir die nächste Antwort sagen?“
Während die anderen lachen und sich melden und Zeynep ab und zu als Clown beleidigen, drängen sich mir echte Emotionen auf. Der fehlende Slang verändert Zeynep so grundsätzlich. Diese andere Rolle, auch wenn sie sie völlig übertrieben ausspielt, zeigt eine andere Seite, die ich ihr nicht zugetraut hätte.
Ich gehe zu häufig davon aus, dass Zeynep und die anderen verloren sind. Natürlich ist diese Haltung fatal. Aber an Tagen, an denen ich mehr Beleidigungen als andere Wörter höre, in denen Mädchen Panikattacken kriegen, weil sie Angst vor ihren Brüdern haben, in denen 80% der Klasse eine sechs in der Arbeit hat, da bin ich müde und hoffnungslos. Da scheiß' ich auf kein Abschluss ohne Anschluss, auf das Recht auf Bildung, auf Berufsberatung und zweiten Bildungsweg. Da sehe ich nur diese riesige, unüberwindbare Kluft, die jede Chance auf Gleichheit schluckt.
Zeynep zeigt mir gerade, dass sie irgendwie doch weiß, wann es darauf ankommt, ihr "Schlaudeutsch" auszupacken, sich zu zeigen, gegen den Strom zu schwimmen. Sie hätte sich jetzt auch schminken können. Sie hätte rauchen gehen können. Stattdessen löst sie ihr Problem: Sie macht es einfach selbst.
Am Ende der Stunde mit einem vollendeten Tafelbild und davonlaufenden SchülerInnen, die in Zeynep für eine Stunde die perfekte Lehrerin hatten, sage ich ihr, wie gut ich das fand und wie mutig.
„Isso, jetzt wissen Sie wie es geht!“, sagt sie und schmeißt sich ihren Rucksack über.
Danke Zeynep.
Danke, ein sehr schöner Beitrag, der auch mich berührt - gerade vor dem Hintergrund der generellen Chancen von Migrantenkindern im deutschen Bildungs- und Hochschulsystem (https://www.gew.de/fileadmin/media/sonstige_downloads/hv/Service/Presse/2022/20220922-Migrations-Bildungstrichter.pdf) Ich hoffe, "Zeynep" hat die ersten Schritte machen können, um ihren Weg zu gehen. Mut hat sie jedenfalls bewiesen! :-)